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Was brauchen wir im Jahr 2025 für einen Sozialstaat?

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Interview mit Andrea Nahles in der Frankfurter Rundschau

SPD-Fraktionschefin Nahles will eine offene Debatte über die Frage, "welchen Sozialstaat eine Arbeitswelt braucht, die gut qualifizierte Menschen durch Algorithmen ersetzt." Ihr Anliegen: den Blick nach vorn richten, Pespektiven anbieten.

Frau Nahles, frühere SPD-Vorsitzende haben erzählt, dass die überlebensgroße Willy-Brandt-Statue in der SPD-Parteizentrale für sie auch etwas Einschüchterndes hatte. Können Sie das nachvollziehen? Noch bin ich ja keine Parteivorsitzende. Die Willy-Brandt-Statue schüchtert mich aber nicht ein. Ich habe mich durch die großen Hände, die sie über die Menschen in der SPD-Zentrale hält, immer eher geborgen gefühlt. Mit Übervätern habe ich keinerlei persönliche Erfahrung und auch keine Probleme.

Nach mehr als 150 Jahren werden Sie aller Voraussicht nach auf dem Parteitag am 22. April in Wiesbaden zur ersten Frau im SPD-Vorsitz gewählt. Warum hat das so lange gedauert? Gute Frage. Damit können wir nicht strunzen, wie wir in meiner Heimatregion, der Vulkaneifel, sagen. Will heißen: Wir können damit nicht prahlen. Wir haben zwar eine Tradition von starken Frauen in der SPD – unter ihnen Elisabeth Selbert, die den Satz ins Grundgesetz gebracht hat: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Und in der SPD-Fraktion im Bundestag sind 42 Prozent Frauen, die Union bringt es nicht mal auf 20 Prozent. Trotzdem hat es mit einer Parteivorsitzenden bisher nicht geklappt.

Gab es bislang immer eine gläserne Decke? Auf jeden Fall. Frauen fehlt oft das Lobekartell, das sie nach vorn schiebt. Die Jungs bekommen das offenbar schon in die Wiege gelegt, während wir Frauen das erst lernen müssen.

Die neue Bundesregierung ist in dieser Woche zum ersten Mal zur Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg zusammengekommen. Sie waren selbst vier Jahre lang Ministerin im Kabinett von Angela Merkel. Ist sie eine gute Chefin? Und: Hat man aus Sicht der SPD davon in Meseberg etwas gemerkt? Sie ist eine kooperative Chefin, mit der man reden kann. Das finde ich gut. Beistand und Rückendeckung für schwierige Entscheidungen sind bei ihr jedoch eher schwach ausgeprägt.

Als Fraktionschefin müssen Sie dafür sorgen, dass die Fraktion die gemeinsame Bundesregierung mit der Union trägt. Als Parteichefin müssen Sie die SPD auch gegen die Union in Stellung bringen. Laufen Sie bei einem so widersprüchlichen Aufgabenprofil nicht Gefahr, Schizophrenie zu entwickeln? In der Vergangenheit in der SPD war es üblich, als Vize-Kanzler mit Merkel am Kabinettstisch zu sitzen und gleichzeitig die SPD zu führen. Das hat eine Profilierung der Partei extrem schwer gemacht. Jetzt ist sie möglich. Wir dürfen aber auch gute Regierungsarbeit und eine Profilierung der Partei nicht gegeneinander ausspielen. Nur wenn die Menschen uns eine gute Regierung zutrauen, können wir neue Mehrheiten neben der Union gewinnen.

Haben Sie sich eigentlich schon bei Jens Spahn bedankt? Der hat mit seinen ständigen Einwürfen die Unterschiede zwischen Union und SPD wenigstens deutlich gemacht. Ich finde, dass die Menschen nach einer so langen Phase der Regierungsbildung erwarten dürfen, dass etwas vorangebracht wird. Jens Spahn hat viele Aufgaben vor sich, die dringend angepackt werden müssen, vor allem den Pflegenotstand. Da sage ich: Junge, jetzt mach mal deinen Job.

Horst Seehofer und Jens Spahn haben in den vergangenen Wochen gezeigt, wie man Opposition in der Regierung macht. Dafür hat die SPD brav ihren eigenen Gesetzentwurf zum Paragrafen 219a zurückgenommen. Sieht so die Arbeitsteilung in den kommenden Jahren aus? Nein. Erstens: Bei § 219a hat die Union nach langer Verweigerung zugesagt, sich doch zu bewegen und einen gemeinsamen Regierungsentwurf zu entwickeln. Das ist ein Fortschritt!

Zweitens: Seehofer und Spahn müssen in der Realität der Regierungsarbeit ankommen. Die können nicht einfach von oben herab verkünden, wie ihre Gesetze aussehen. Das ist harte Kärrnerarbeit, sonst bleiben sie erfolglos auf ganzer Linie. Seehofer ist nicht mehr Ministerpräsident in Bayern, sondern Teil eines Ministerteams – und so muss er sich verhalten. Er wird sehen, dass das etwas anstrengender ist.

Gerade in der Flüchtlingspolitik ist die Anhängerschaft der SPD gespalten: Die einen wollen so viel helfen wie irgend möglich, andere sorgen sich vor Konkurrenz um Jobs und Wohnungen. Hat die SPD sich beim Thema Flüchtlingspolitik im Wahlkampf deshalb eher weggeduckt? Bei der SPD gibt es eine klare Linie: Sicherheit und Ordnung müssen vom Staat jederzeit gewahrt bleiben. Wer in Deutschland ist, für den gelten das Grundgesetz und unsere Regeln. Anders als mancher politische Mitbewerber vertreten wir sie aber ohne Ressentiments gegenüber den Menschen, die zu uns gekommen sind. Ich befürworte alles, was Integration fördert, und auch was Klarheit über die Regeln in unserem Land schafft.

Dennoch klingt es nicht so, als würden in der SPD zu dem Thema alle dieselbe Sprache sprechen. Ich glaube schon, dass wir uns in dieser Grundhaltung sehr einig sind. Über den konkreten Weg gibt es aber auch immer wieder Gesprächsbedarf in der SPD. Den gehen wir an. Manchmal wird mir in meiner eigenen Partei zu reflexartig reagiert. Es muss einerseits gelten: Wenn jemand bei dem Thema mal etwas kritisch anspricht, ist er nicht gleich ein Rassist. Andererseits sollten wir es aber auch mal betonen, wenn etwas gut gelaufen ist in der Integrationspolitik.

Wird die SPD in vier Jahren immer noch über Hartz IV diskutieren? Oder schließen Sie in dieser Legislaturperiode die Vergangenheitsbewältigung ab? Ich möchte darüber reden, welchen Sozialstaat eine Arbeitswelt braucht, die gut qualifizierte Menschen durch Algorithmen ersetzt. Diese Menschen brauchen gerade in der Digitalisierung einen Sozialstaat, der ihnen ermöglicht, Qualifikationen zu erwerben. Und zwar ohne dabei einen Einkommenseinbruch zu haben, der sie zwingt, ihr gewohntes Leben völlig aufzugeben.

Also Schluss jetzt mit Hartz-IV-Debatten in der SPD? Ich finde den Impuls von Michael Müller zum solidarischen Grundeinkommen richtig und begrüße ausdrücklich, dass wir darüber in der SPD eine Debatte führen wo denn sonst? Die Frage ist doch: Was brauchen wir im Jahr 2025 für einen Sozialstaat? Und nicht: Was war im Jahr 2003? Wir müssen wieder stärker die positive Spannung spüren, die sich ergibt, wenn wir Debatten nach vorn auflösen. Ich finde es falsch, sich an der Vergangenheit festzuklammern. Für viele sind die Hartz-Reformen eher eine Projektionsfläche für alle negativen Assoziationen.

Sie könnten ja für die Abschaffung von Sanktionen und höhere Hartz-IV-Sätze streiten. Dann wären viele negative Assoziationen weg. Ich möchte eine nach vorn gerichtete Debatte führen und werde dabei nicht vorab einzelne Punkte herauslösen, über die wir differenziert und im Zusammenhang sprechen sollten. Verschärfte Sanktionen für junge Menschen sind keinesfalls sinnvoll, aber eine generelle Abschaffung von Sanktionen halte ich für schwierig. Wer nämlich auf der anderen Seite Steuern und Abgaben entrichtet, kann vom Staat verlangen, dass er genau hinschaut, wie damit umgegangen wird.

Der Kern von Hartz IV – das Prinzip Fordern und Fördern – soll aus Ihrer Sicht also bleiben. Ja. Früher hatten wir für Sozialhilfeempfänger keine aktivierenden Arbeitsmarktmaßnahmen. Wir hatten einen Sozialstaat, der vielen Menschen gar kein Angebot mehr gemacht hat. Fordern und Fördern war eine Verbesserung gegenüber einem Zustand, in dem es hieß: „Du bleibst in der Sozialhilfe – egal, was du willst." Dennoch gilt es, die Idee weiter zu entwickeln. Die grundlegende Frage ist doch, wie wir die Lebensperspektiven der Menschen verbessern. Wir wollen beispielweise einen sozialen Arbeitsmarkt schaffen.

Über die letzten beiden Kanzlerkandidaturen wurde im Kreis von zwei bis drei Leuten entschieden. Können Sie versprechen, dass es unter Ihnen als Parteichefin anders sein wird? Ich habe zugesagt, dass wir zu gegebener Zeit darüber ergebnisoffen diskutieren. Aber jetzt steht das wirklich nicht an.

Bei den letzten Wahlen waren die Beliebtheitswerte des Einzelnen das entscheidende Kriterium für die Nominierung des Kanzlerkandidaten. Bleibt es dabei oder ist dieser Ansatz endgültig gescheitert? Die Wahlergebnisse sprechen für sich. Die Art der Kandidatenfindung war aber sicher nicht der einzige Fehler.

Welchen zentralen Fehler sehen Sie noch? Die SPD muss sich auf den Prüfstand stellen: inhaltlich, aber auch, was die Art angeht, wie wir diskutieren. Wir sind eine sehr hierarchisch organisierte Partei gewesen – und haben das auch stark ausgestrahlt. Ich spüre einen großen Wunsch nach einer neuen Führungs- und Debattenkultur. Und: Ich will liefern. Jeder in der Parteispitze hat den Schuss gehört. Die Erneuerung kommt.

Die Geschichte von Martin Schulz hat gezeigt, dass die SPD mit einem vor kurzem noch von ihr gefeierten Parteichef extrem hart umgehen kann. Haben Sie Angst, dass Ihnen dasselbe passiert? Nein. Ich werde ja auch zum Glück überhaupt nicht in einem solchen Maß gefeiert. Was ich anbieten kann, ist meine Leidenschaft für Politik – und meine Professionalität. Ich war schon immer misstrauisch, wenn Politiker mit Heilserwartungen überfrachtet wurden – das behagte im Übrigen auch Martin Schulz nicht.. Ich habe schon so manchen Messias in der Politik überlebt – erinnern Sie sich noch an Karl Theodor zu Guttenberg? Das gibt mir die innere Freiheit, die Dinge gelassen auf mich zukommen zu lassen.

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